Circa alle zehn Jahre sollten Unternehmen ihre IT-Strategie überdenken und sich mit ihrem ERP-System auseinandersetzen. Dabei werden auch die Prozesse intensiv untersucht.
Unternehmen sind gerade mitten in einer Welle der ERP-Erneuerung. Systeme, die im Vorfeld des Jahr-2000-Problems vor mehr als zehn Jahren eingeführt worden sind, haben das Ende ihres Lebenszyklus erreicht. Neue Funktionalitäten aber auch neue Themen wie Social Media machen eine Entscheidung immer notwendiger. Zwar spielt bei der Auswahl einer ERP-Software immer noch die Funktionalität eine dominierende Rolle, aber zunehmend erkennen Anwender auch, dass es sich um eine langfristige strategische Entscheidung handelt, welchem ERP-Ökosystem und damit welcher Technologiefamilie man sich anschließt. Bei dieser Entscheidung spielt natürlich auch die Geschäftsstrategie eine dominierende Rolle.
Die grundlegende Frage, die sich bei der Suche nach dem Zusammenhang zwischen Geschäftsstrategie und IT-Strategie immer wieder stellt, ist, ob IT-Innovationen zu einer Innovation der Geschäftsprozesse führen sollen oder umgekehrt. Sie lässt sich nicht einfach beantworten, letztendlich sind beide Wege richtig.
Wichtig dabei ist, dass die aus den Reihen der Enttäuschten und Technophoben immer wieder plakativ vorgetragene These, dass sich IT alleinig der Geschäftsstrategie unterzuordnen hat, so nicht richtig ist. Dies würde postulieren, dass sich ein Unternehmen vollkommen unabhängig von der Innovation der IT und der dadurch entstehenden Möglichkeiten weiter entwickeln kann.
Richtig ist aber auch, dass eine Innovation auf dem IT-Markt nicht zwangsläufig zu einer Innovation der Geschäftsprozesse führen muss. Auf allen Ebenen muss zwischen IT und Organisation eine gegenseitige Konformität erreicht werden. Letztlich heißt das, dass IT-Strategie und Geschäftsstrategie zueinander passen müssen.
In aller Regel werden in einem modernen Industrie- und Handelsbetrieb ca. 80-85% der operativen Geschäftsprozesse unmittelbar durch Software-Systeme abgebildet. Zahlreiche weitere Prozesse (ca. 5-10%) sind vorwiegend manueller Natur, sind aber als zu- und abführende (Teil-) Prozesse und Aktivitäten unmittelbar mit Standard-Software-Systemen verknüpft. Durch die zunehmende Verfügbarkeit von Systemfunktionen, etwa in den Bereichen MIS/BI (Führungsinformationssysteme) oder CRM/SFA (Kunden- bzw. Auftragsgewinnungssysteme) werden auch Führungs- und Entscheidungsprozesse und solche Unternehmensfunktionen, die in der Vergangenheit weniger von Software bestimmt waren, zunehmend von Software "determiniert".
In der Folge ist die klassische "Prozessoptimierung" immer weniger eine Optimierung "auf der grünen Wiese" sondern muss als Annäherung der Unternehmensfunktion und -bedürfnisse an die "Best Practises" einer Standard-Software-Systems bzw. der „ERP-Marktes“ als Ganzes verstanden werden. Auf Grund der grossen Auswahl an Systemen sowie des grossen Funktionsumfangs von Systemen kann man heute davon ausgehen, dass ca. 90% der Anforderungen mit dem "Standard" einer Standard-Software abgedeckt werden kann, die fehlenden Funktionen - im Englischen spricht man von "Gaps" - können in aller Regel durch einfache Programmierung (Formulare, Makros, etc.) abgedeckt werden. Eine umfassende Programmierung ist nur noch in wenigen Fällen notwendig. Hier sind zwischen verschiedenen Branchen jedoch Unterschiede auszumachen. Der klassische Fertigungs- und Handelsbereich können in aller Regel sehr umfassend abgedeckt werden, im Bereich "Service" beispielsweise ergeben sich aktuell eher Defizite.
Auf Grund der vorangegangenen Betrachtungen wird klar, dass ein "Prozessoptimierungsprojekt" im Vorfeld einer ERP-Evaluation von der eigentlichen ERP-Evaluation nicht zu trennen ist. Die Prozessoptimierung entspricht daher eher einer "Suche nach dem richtigen Standard", d.h. jener Standard- bzw. Referenzprozesse, die die Anforderungen des Unternehmens optimal abdecken und den meisten betriebswirtschaftlichen Nutzen bringen. Diese Suche hat dabei zwei Elemente: in einem ersten Schritt ist zu klären, welcher Standard für das Unternehmen ideal ist, in einem zweiten Schritt ist ein System zu finden, dass diesen Standard auch effizient abbildet. Beide Aufgaben sind nicht wirklich sequentiell sondern sehr iterativ. Entsprechend ergibt sich der Projekterfolg eher als eine Multiplikationsfunktion der beiden Faktoren „Optimale Prozessorganisation“ und „Abgestimmte Software“ als durch eine Addition.
In vielen konkreten Fall hat man es somit weniger mit einem Prozessoptimierungsprojekt zu tun. Der Schwerpunkt liegt auf dem Management der organisatorischen Veränderung ("Change Management"). Change Management fördert den Abstimmungsprozess zwischen Software, Prozessorganisation und den betroffenen Personen bzw. ihrer Arbeitsorganisation. Ein wichtiges Hilfsmittel sind sogenannte "Change Impact Portfolios", mit denen aufzeigt wird, wo sich die aktuelle bzw. zukünftige (=SOLL) Prozessorganisation in Relation zum Software-Standard und zum aktuellen IST-Zustand der Organisation befindet.
Standard-Software selbst ist ein hervorragendes Hilfsmittel für das Management der organisatorischen Veränderung, da Standard-Software quasi ein weitgehend objektivierbares, da letztlich technisches, Ziel vorgibt. Dieser Umstand hat in den vergangenen Jahren zur "Erfolgs-Ehe Standard-Software / Prozessoptimierung" geführt.
Rollenwandel der ERP-Nutzer
Der technologische Wandel, der erstmals über den privaten statt über den Unternehmensalltag vollzogen und getrieben wird, wird nach Einschätzung von Gartner in den nächsten fünf Jahren noch weiter zunehmen. Für die Unternehmen bedeutet dies, dass sie versuchen müssen, die Veränderungen von Verhaltensweisen und neue Technologien in ihre etablierte Unternehmenskultur und -infrastruktur zu integrieren.
Aber auch die Anforderungen an die Wissensarbeiter steigen. Um den Anforderungen gerecht werden zu können, wird immer mehr ein Wissens-Mix aus Business und Technologie gefordert. Während der klassische ERP-Anwender in der «alten Zeit» ein klar umrissenes Aufgabenfeld hatte, und die IT an der Unternehmensgrenze endete, ist das Aufgabenfeld heute dynamisch und ständigen Änderungen unterworfen. Der direkte Vorgesetzte und das Unternehmen verlieren zunehmend an Bedeutung sowohl für die Organisation wie auch für die Erledigung der täglichen Arbeit.
Die Folgen für das Unternehmen dürfen keinesfalls unterschätzt werden. So wie Produktionsanlagen mobil sind, sind auch die für den Unternehmenserfolg wertvollen Wissensarbeiter mobil geworden. Die IT ist mobil, dank Software-as-a-Service, UMTS und Notebooks. Damit sind auch die Anwender nicht mehr an klassische Vorgaben gebunden.
Die Anbieter von ERP-Lösungen müssen auf Änderungen im Nutzerverhalten und zum Einsatz ihrer Lösungen in der neuen Welt schnell Antworten finden. Noch ist die Mehrheit der Unternehmen träge und nur punktuell offen für Web-2.0-Angebote. Man befindet sich noch weitestgehend in der Testphase. Funktioniert etwas, wird es eingesetzt; im Moment erst noch von einer Minderheit, bald aber immer schneller auch von der Mehrheit. Sich dem Trend zu widersetzen wird sich kein Unternehmen, das zukünftig Erfolg haben möchte, leisten können.
Handlungsbedarf
Das Individualdenken der Anwender steht im Gegensatz zu langjährigen Grundlagen von ERP-Systemen, wie Standardisierung und Prozessorientierung im Sinne von eingeschränkter Prozessführung. Das heutige User-Verhalten entspricht immer weniger dem Anwendermuster aus den «Gründerjahren» der ERP-Systeme. ERP-Systeme verfolgen im Kern noch heute Baupläne aus den Gründerjahren. Diese wurden zwar kontinuierlich technologisch «aufgemotzt», aber nicht wirklich neu durchdacht. Mit den immer höheren Ansprüchen der Anwender werden hier vollkommen neue Konzepte notwendig. Diese sind zwingend «hybrid» und müssen eine Beteiligung der User am IT-Customizing an sich zulassen.
Die IT-Kulturen und die IT-Governance in den Unternehmen sind noch nicht auf die «neuen User-Kulturen» abgestimmt. Hier werden dringend neue Ansätze notwendig, wobei sich diese zwingend von einer reinen «Technik-Denke» verabschieden müssen. IT-Anwendungslandschaften im Unternehmen werden immer mehr zu basisdemokratischen Systemen. Das Wissensmonopol der IT-Abteilungen wird damit gebrochen. Um diese «komplexen Systeme» zu führen und zu gestalten, muss man sie verstehen, wie sie sich verändern. Erst wenn man diese Veränderungslogik versteht, lässt sich diese auch beeinflussen.
Autor: Frank Naujoks, i2s
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